Preisträger 2020

Internationaler Wettbewerb

Jury Internationaler Wettbewerb: Jihane Chouaib, Roger Alan Koza, Samir Karahoda

Sun Dog

Hamburger Kurzfilmpreis dotiert mit 3000 €

Sun Dog • Dorian Jespers • Belgien, Russian Federation 2020

Begründung: 
Jahr für Jahr nimmt die Anzahl der Filme exponentiell zu. Eine quantitative Evolution, die möglicherweise unaufhaltsam ist. Aber tausende Filme bedeuten nicht tausende Filmemacher. Ein Filmemacher hat eine Vision der Welt und eine andere des Kinos; die Überschneidung beider wird in der Inszenierung enthüllt. Von der ersten Einstellung bis zur letzten enthüllt Sun Dog die Präsenz des Filmemachers hinter der Kamera. Dorian Jespers filmt mit verblüffender Selbstsicherheit und einem erstaunlichen Wissen über die gesamte Materialität des Films selbst. Eine ganze Tradition wird hier heraufbeschworen und wiederbelebt. Jespers beschreitet Pfade, die zuvor von alten Meistern wie German und Zulawski beschritten wurden. Namen, die für eine Tradition stehen, welche immer noch in unnachahmlichen Filmemachern wie Sokurov durchscheinen. In Sun Dog ist der Ton ebenso eine eigenständige Einheit wie das Bild. Die minutiöse Arbeit am Licht in der Nacht und am Ton, der den Soundtrack ausmacht, ist bewundernswert. Und das ist nicht alles, denn über die formale Meisterleistung hinaus führen die nächtlichen Arbeiten eines Schlossers in einer russischen Stadt in der Arktis zu traumhaften Elementen, welche in fantastischen Wendungen der besten klassischen sowjetischen Science Fiction resultieren. Alles in Sun Dog überrascht. Die Reisen und die rätselhaften subjektiven Einstellungen, in denen die Geschichte sich abspielt, machen den formalen Schwung, der diesem scharfsinnigen Abenteuer und metaphysischer Fantasie unterliegt, aus. Jespers Film den Preis zu verleihen bedeutet schlicht, die Ankunft eines Filmemachers in der Geschichte des Kinos beizuwohnen. Selten hat eine Festivaljury ein derartiges Glück.

Where to Land

Deframed Preis, dotiert mit 2.000 Euro geht an einen Film, der auf poetische, formale, analytische und unkonventionelle Art und Weise mit der Wirklichkeit umgeht und dabei zukunftsweisend alle Regeln ignoriert.

Where to Land • Sawandi Groskind • Finnland 2020

Die Schönheit von Where to Land entspringt dem zarten Mysterium, das am Anfang etabliert wird und die Geschichte färbt. Was geschieht zwischen einer Frau, die ihre Sprache verloren und die Entscheidung getroffen hat, auf einer Insel Zuflucht in der Einsamkeit zu suchen, sowie einem jungen Mann, der durchaus ihr Sohn sein könnte? Where to Land zeigt, wie sich zwei fremde Menschen auch ohne Worte und nur durch Zuneigung gegenseitig verstehen können. Lediglich eine Montage aus alten Fotos gibt einen kleinen Hinweis auf die Vergangenheit der Frau. Und auch nur die Art und Weise, wie der junge Mann in einer Bar im Internet surft, erlaubt flüchtige Einblicke in seine Persönlichkeit. Den Film, der mit nur wenigen Informationen zur Handlung aufwartet, untermalen einige musikalische Passagen aus Henry Purcells The Fairy Queen, deren Titel ein unausweichliches Zeichen der Wertschätzung für den Film ist. Ein Teil seines Geheimnisses liegt in seiner Atmosphäre (die vor allem durch ein besonderes Soundkonzept geprägt ist), die vage Mythen heraufbeschwört, in denen das Verhältnis zur Natur und zu den Tieren naturwissenschaftliche Konventionen übersteigt. Es gibt zwei unvergessliche Passagen: eine Aufnahme, in der der junge Mann lächelt, wenn er die "Stimme" der Frau hört, und eine andere, in der er ihr Haar im Wald liebevoll bürstet. Aus diesen minimalen Gesten heraus bleibt das Kino als solches lebendig, was hier durch einen 15-minütigen Film untermauert wird. Genug, um den Glauben an die Fiktion wiederherzustellen.

Genius Loci

Hamburg Short Film Candidate for the European Film Awards

Genius Loci • Adrien Merigeau • France 2019

Das Chaos durchdringt alles; es durchdringt die Stadt, legt sich in den Zwischenräumen jeder Landschaft fest und erreicht sogar die eigene Psyche und die häusliche Ordnung der Protagonistin. Dies ist der Ausgangspunkt von Genius Loci, einem Titel, der in seiner Vergangenheit und philosophischen Bedeutung auf eine Dimension des Bewohnens verweist, ein Film, dessen komplexe, aber effiziente Poetik das Prinzip der permanenten Mutation aufgreift und so eine kraftvolle Ästhetik gegen das Chaos schmiedet, das die junge Reine anfangs verkündete. Adrien Merigeau verbindet Bildtraditionen und Soundkonzepte, mit denen er den Geisteszustand seiner Protagonistin darstellt, ohne die sie umgebende Welt aus diesem singulären Porträt auszuschließen. In diesem Sinne kann Genius Loci als ein in lebendigen Aquarellen gefilmter Traum der Protagonistin gesehen werden. Ein Traum von einer zurückhaltenden, gleichzeitig offenkundigen Eleganz, in dem die Farbwahl ebenso schön und streng ist, wie die Töne, die den Film tragen. Es sind kaum 16 Minuten in denen der Film das animierte Kino rechtfertigt, obwohl es ausreichen würde, nur Kino zu sagen. Aus diesen Gründen hat die Jury beschlossen, den Film Genius Loci von Adrien Merigeau als Hamburger Kandidat für den Europäischen Filmpreis zu nominieren.

Lobende Erwähnung

Huntsville Station • Jamie Meltzer, Chris Filippone • USA 2020

Das Wort „Freiheit“ hat unterschiedliche Resonanzen und beschwört immer einen unbestreitbaren Wert für das Ohr. Niemand würde jemals daran denken, die Freiheit abzulehnen und noch viel weniger daran, den angeblichen Schein und die Bedeutung, die das Leben eines Menschen definiert, in Frage zu stellen. Dennoch ist es schwer, Freiheit zu definieren und noch schwerer, sie zu filmen. Vielleicht beinhaltet die Beschränkung der Freiheit eine Abkürzung zum besseren Verständnis der Freiheit, weshalb die Beobachtung einer Gruppe Männer, die für kurze Zeit ein Gefängnis verlassen dürfen, ausreicht um zu verstehen, was die Erfahrung der Freiheit selbst sein könnte. Tatsächlich gelingt es Meltzer und Fillipone in weniger als 15 Minuten, Männer, die ein US-Amerikanisches Gefängnis verlassen und sich zu einer Bushaltestelle begeben, zu porträtieren. Sie dabei zu beobachten, wie sie in der Sonne sitzen, auf den Bus warten, ein Lotterielos oder ein Kleidungsstück kaufen oder einfach die Umarmung des großen, offenen Raumes spüren, bebildert die Erfahrung, die so schwer zu verstehen oder sogar zu filmen ist: Freiheit. Mit der Kamera umfassen die Regisseure diese Erfahrung, indem sie die Gefahr von Rührseligkeit und didaktischer Rhetorik beschwören. Mit Präzision und Strenge ist die Freiheit hier eine konkrete Atmosphäre, welche über jeder Einstellung schwebt. Aus diesem Grund, und das ist mehr als genug, entschied sich die Jury, Huntsville Station lobend zu erwähnen.

Deutscher Wettbewerb

La Espera

Jury Deutscher Wettbewerb: Sabine Küchler, Irene von Alberti, Romeo Grünfelder

Jurypreis Deutscher Wettbewerb, dotiert mit 2.000 Euro

La Espera • Danilo Do Carmo, Jakob Krese • Germany, Brazil, Netherlands 2020

"Why" ist das erste gesprochene Wort im Film La Espera, dessen Titel mit Erwartung, Lauern und Warten übersetzt werden kann. Das “Warum" des Films öffnet Horizonte, die vielschichtiger in 14 Minuten nicht dargestellt werden könnten. Warum fliehen Menschen? Warum riskieren sie nicht nur das eigene, sondern auch das Leben ihrer Kinder und Partner? Warum werden die Gründe hierfür bis heute auf so perfide und menschenverachtende Weise verleugnet (nur zwei Beispiele: dort asiatische Betriebe, in denen europäische Modehäuser unter miserablen Sozial- und Sicherheitsstandards Kleider nähen lassen, afrikanische Minen, in denen Kinder seltene Erdmetalle für die hiesige Industrie unter Lebensgefahr abbauen etc. - hier die fadenscheinige Blockade eines längst überfälligen Lieferkettennachverfolgungsgesetzes)? Das Warten findet mit der Durchfahrt des Güterzugs nur scheinbar ein Ende. Zurück bleiben die, die verletzt, verstümmelt, verbrannt und von den Grenzpolizisten gejagt und geschlagen werden, deren Kinder verschleppt und deren Zukunft ungewiss bleibt. Zurück bleiben aber auch die, die lieber warten als Fluchtursachen bekämpfen und beim Absaufen von Schlauchbooten und dem Abbrennen überfüllter "Durchgangslager" zusehen. La Espera zeigt stattdessen Lagerfeuer und brennendes Stroh. Überhaupt spielt der Film auch ästhetisch in einer zwielichtigen Transitzone, in der zauberhaft pittoresken Übergangszeit von Tag zu Nacht, lässt den Protagonisten ihre Stimme, die am Lagerfeuer kaum mehr als nur noch eine flüchtig, unscharfe Silhouette zeigen. Masken vor dem Hintergrund des verheißungsvollen "Wilden Westens", in dem echte Kerle am Lagerfeuer starken Tabak und eine Tasse Kaffee nach dem kräftezehrenden Viehtrieb genießen. Wilder Westen? Abendsonne? Lagerfeuer? Bis an die ästhetische Schmerzgrenze verschärft, wird dieses Klischee mit bunten Scheinwerfer der im unscharfen Hintergrund vorbeiziehenden Trucks, die sich als Karavane eines ungebremsten Warenverkehrs durch den gesamten Film zieht, über alle Grenzen hinweg. Was anklingt, ist das Heilsversprechen eines naiv romantischen Kinos mit jugoslawischer Winnetou-Kulisse in Mad Max Breitwand, das es längst nicht mehr gibt. Einem Kino, dem aber deshalb nicht weniger Menschen umso sehnsüchtiger nachtrauern. Irgendetwas stimmt hier nicht, und das hat uns, die Jury, davon überzeugt, La Espera den ersten Preis zuzuerkennen.

Special Mention:

[Bordeaux], ma bile • Oliver Bassemir • Germany, France 2019

The situationistically informed film feels like it fell out of time, driven out of Bordeaux’s inner city like the film maker himself. In the city’s most inhospitable banlieues, he faces fundamental observations which no longer seem worth of being observed.

Die sehen ja nur, die wissen ja nichts • Silke Schönfeld • Germany 2020

In search of the boundary between cinematic picture and reality, the film sensitively approaches a girl making her way in male dominated martial arts and gets impressively close to her in the process. The film maker neither evokes the migrant background of her environment nor does it summon up a heroic myth. Instead, it guides our view into a world which we did not know existed in this way.

Scenes from Trial and Error • Tekla Aslanishvili • Germany, Georgia 2020

The film focuses in an unconcluded manner on the ambivalent portrayal of a failed project at the Black Sea. After years of occupation by diverse interests, the film shows us the dynamic of decisions and the subsequent decline of a bizarre utopia with quirky strength.

Serial Parallels • Max Hattler • Germany, Hong Kong 2019

In the projector, the individual images combine along imaginary, parallel running perforation holes of the film to a staccato of shots and montages of urban tower blocks. Serial Parallels displays the connection of technical film history and serial architecture in an extremely austere formality which is frequently interrupted by the signs of inhabitants in individual frames.

Three-Minute Qickie: Unknown Territories

Apocalypse Airlines

Der Wettbewerb "Flotter Dreier" wird gefördert von der Hamburgischen Kulturstiftung. Der Publikumspreis ist mit 1.000 Euro für den Gewinnerfilm dotiert.

Apocalypse Airlines • Franziska Unger/Camille Tricaud • Deutschland 2019

Es war knapp an der Spitze, der zweite Platz geht an "La mer á boire - Sea to drink" von Charlotte Arene, dicht gefolgt von "Weisser Fleck . The White Stain" von Gregor Stockmann auf dem dritten Platz.

Swinguerra

Alle Wettbewerbe

Der ARTE-Kurzfilmpreis besteht aus dem Ankauf eines Filmes (bis zu 6.000 Euro) durch ARTE, den deutsch-französischen Kultursender, und wird wettbewerbsübergreifend verliehen. Der Preisträgerfilm wird bei ARTE im Kurzfilmmagazin »Kurzschluss« ausgestrahlt.

Swinguerra • Bárbara Wagner, Benjamin de Burca • Brazil 2019

Das Künstlerduo Wagner & De Burca vermag es, die Authentizität, die Körperlichkeit, die Direktheit einer politischen und sozialen Wirklichkeit in großer Wirksamkeit umzusetzen. Der Tanz wird Mittel des Ausdrucks. Tanz und Populärkultur fungieren als demokratische Stimme. Wagner & De Burca vermitteln mit ihrer gemeinsam mit den Tänzer*innen erarbeiteten Choreographie einen Plan für die Zukunft des Landes Brasilien. SWINGUERRA bekommt den ARTE-Preis 2020. Wir gratulieren.