COUNTRY: FOCUS UK

2017 über den Länderschwerpunkt Großbritannien zu schreiben, ohne den Brexit zu erwähnen, ist unmöglich. Während die Nachrichten mit Berichten über Wahlprognosen, Sicherheitsabkommen und Streitigkeiten zwischen den Verhandlungspartnern gefüllt sind, bleiben die tatsächlichen Auswirkungen der Entscheidung auf lange Sicht ungewiss. Manche betrauern das Resultat des Referendums, andere sehen es als Fortschritt. Aber unabhängig davon, wie man die Situation interpretiert – die Beziehung zwischen dem Vereinigten Königreich und seinen europäischen Nachbarn wird auf beiden Seiten reflektiert und hinterfragt. Debatten über nationale Identität in einer globalen Welt, nostalgische Geschichtsverklärung und der Konflikt zwischen Abgrenzung und Offenheit werden zum Hintergrund für jede Überlegung zum Thema.

Trotz aller Diskussionen stellt sich immer auch die Frage, wie diese Themen aufgegriffen und welche Bedeutungen ihnen zugeschrieben werden – sei es als Slogan auf einem Bus, im Eifer einer Fernsehdebatte oder als Experimentalfilm auf der Kinoleinwand. In fünf Programmen mit Filmen aus fünfzig Jahren widmen wir uns deshalb einer Filmkultur, die wie kaum eine andere zahlreiche Meilensteine der Kurzfilmgeschichte beigesteuert und unser Verständnis des Kurzfilms als Kunstform geprägt hat.

Zu den Legenden des britischen Films zählt John Smith, dessen Film ›The Girl Chewing Gum‹ (1976) als Standardwerk des experimentellen Kinos gilt. Smiths Filme sind jedoch nicht für eine Elite gemacht, wie er im April 2017 während unseres Skype-Gesprächs betont: »Die Zuschauer brauchen kein Wissen über künstlerischen Film, um zu verstehen was sie sehen. Meine Arbeiten sind eigentlich für jeden zugänglich, zumindest für alle, die aufgeschlossen und unvoreingenommen sind.« Es ist genau dieses bewusste und humorvolle Spiel mit der Zuschauererwartung, das seine Arbeiten auszeichnet. Sie bewegen sich frei im Grenzbereich zwischen Dokumentarischem und Erzählerischem – und machen ihrem Publikum zugleich immer wieder klar, dass es, wie Smith es ausdrückt, »ein recht merkwürdiges Etwas auf einer glatten Wand« ansieht.

Als Smith in den 70er Jahren damit begann, an der Kunsthochschule Filme zu drehen, war die britische Filmlandschaft – insbesondere was den künstlerischen Film betraf – auf London konzentriert. »Die einzige wirkliche Möglichkeit, experimentelles Kino oder Künstlerfilme zu sehen, war bei der London Filmmakers’ Co-op, die 1966 gegründet wurde. Dort veranstalteten sie regelmäßig Filmscreenings, boten Workshops und Arbeitsplätze an und gründeten ein Vertriebsnetzwerk. Ich habe meinen ersten 16-mm-Film dort entwickelt«, erinnert er sich. Aber es waren die dort geführten Diskussionen über Film, genauer gesagt den strukturalistischen Film, die ihn geprägt haben: »Film wurde durch seine handwerkliche Konstruktion und materielle Beschaffenheit betrachtet. Nicht um Illusionen, sondern um ein Bewusstsein zu schaffen, dass es ein Film ist, den man sieht. Diese Idee beeinflusst mich noch heute und auf die eine oder andere Art machen all meine Arbeiten auf ihre Konstruiertheit und Künstlichkeit aufmerksam.«

Hierzu nutzt Smith Verfahren wie das Voice-over und die Möglichkeiten des Sounddesigns, um die komplexe Beziehung von Bild und Ton, Sprache und Narration aufzuzeigen. Häufig dienten ihm dabei seine direkte Nachbarschaft in East London oder persönliche Erlebnisse als Ausgangspunkt. »Viele meine Filme handeln von Veränderungen. Ich vermute, das liegt daran, dass ich immer unter unsicheren Bedingungen gelebt habe, bis ich über vierzig war. Ich habe zum Beispiel in einem der Häuser, die in ›Blight‹ (1996) abgerissen werden, gewohnt. Mein Interesse am Wandel im meiner Umgebung, besonders am Verschwinden von Gebäuden, basiert also auch darauf, dass mein eigenes Haus genau das tun wird – verschwinden.« Smiths Filmschaffen ist geprägt von diesem Wechselspiel zwischen dem Sichtbaren und Unsichtbaren, aber vor allem auch zwischen dem Sicheren und dem Unsicheren. Die Zuschauer sind immer wieder gefordert, das Gesehene neu einzuordnen und in einen Sinnzusammenhang zu bringen. So gelingt es Smith nicht nur, auf filmische Gestaltungsmittel und die Erzählstrukturen des Kinos aufmerksam zu machen, sondern auch das Alltägliche aus einer neuen Perspektive zu betrachten.

Obwohl er, wie er lachend erzählt, erst begonnen hat, zu Filmfestivals zu fahren, als er eigentlich schon zu alt dafür war, ist Smith in den vergangenen 20 Jahren ein häufiger Gast in Hamburg gewesen. Für den Focus UK haben wir ihn gebeten, zwei Programme zu kuratieren: eines mit Filmen, die ihn und sein Werk beeinflusst haben und ein zweites mit zeitgenössischen Produktionen, die für ihn aktuelle Entwicklungen spiegeln.

»Für ›The 20th Century According to John Smith‹ war es sehr einfach, Filme zu finden«, lacht er. »Das Problem war eher, dass ich zu viele gefunden habe. Da ich diese Filme alle gesehen habe, als ich sehr jung war, haben sie einen großen Eindruck hinterlassen. Deshalb habe ich versucht, das Programm so zu gestalten, dass jeder Film für mich einen bestimmten Aspekt repräsentiert, der damals neu und wichtig war. Durch einen der Filme habe ich zum Beispiel realisiert, wie bedeutend und einflussreich ein Voice-over sein kann. Ein anderer hat mir gezeigt, wie man mit sehr simplen Mitteln etwas sehr Starkes und Mächtiges erschaffen kann.«

Die Auswahl der aktuellen Filme war schwieriger: »Ich sehe leider nicht so viele zeitgenössische Filme, wie ich sollte«, gesteht Smith und betont, dass es sich bei ›The 21st Century According to John Smith‹ um eine subjektive und persönliche Auswahl handele. »Wenn ich neuere Arbeiten mit den Filmen aus den 70er Jahren vergleiche, dann ist auffällig, wie gut sie häufig geschnitten sind und ich schätze sehr, wie sie konzipiert und konstruiert sind. Was mir auch sofort einfällt, wenn ich an Entwicklungen und Trends denke, ist, dass es viel mehr Filme gibt, die eine dokumentarische Grundlage haben. Viele erkunden die Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentation und hinterfragen die fiktionalen Aspekte des Dokumentarischen.« Als ich anmerke, dass dies ja auch eine Qualität seiner eigenen Arbeit sei, nickt er. Er habe jetzt mehr Gesellschaft, im positiven Sinne, und fügt etwas verschämt hinzu: »Ich habe mich ein bisschen egoistisch gefühlt, dass ich auch eigene Filme programmiert habe, aber als ich mir die Zusammenstellung anschaute, habe ich gemerkt, dass es kaum wirklich kurze Arbeiten gibt und ich dachte, wenn ich also ein paar meiner kürzeren Filme hinzunehme, passt die Auswahl gut zusammen.«

Eines dieser kürzeren Werke ist ›Who Are We?‹ (2016), für das Smith Material aus einer BBC-Debatte aus der Zeit vor dem Brexit-Referendum bearbeitet hat, um auf die Normalität extremer Meinungen in der öffentlichen Diskussion hinzuweisen. Wie viele der 48 Prozent auf der anderen Seite vergleicht er die Tage nach der Abstimmung mit einer Beerdigung. Auch wenn sich auf den Straßen im Alltag seitdem wenig verändert hat, fühle es sich für ihn an, als sei ein Teil seiner Identität geraubt worden. Seine Frustration über die »rechts eingestellten Menschen, die alles hassen, was nicht mit Fish & Chips zu tun hat«, kann er kaum verbergen.

Das eigene Territorium – sei es geografisch, sozial oder imaginiert – zieht sich als Motiv auch durch das Programm ›This Is My Land‹. Wir betrachten die Entwicklung der britischen Clubkultur vom Northern Soul zum Rave der 90er Jahre, die Verwahrlosung gescheiterter sozialer Wohnprojekte und besuchen einen Einsiedler im schottischen Wald. Wie beim Vater, der seine friedliche Vorstadtwelt gegen eine Jugendgang verteidigen muss, wird immer wieder das Machtverhältnis des Privaten und des Kollektiven ausgehandelt.

Das komplexe Leben in einer diversen und vielschichtigen Gemeinschaft wird in den ›London Stories‹ untersucht. Die britische Hauptstadt befindet sich in einem ständigen Wandel, durch den sich auch ihre Anwohner im Alltag navigieren müssen, während an jeder Straßenkreuzung Stadtplanung und Geschichte aufeinandertreffen.

Dem legendärsten britischen Musikexport Punk widmen wir das Programm ›Punks vs. Knights‹. Die

erste offizielle TV-Betrachtung des Phänomens ›Punk‹ berichtet von den Zerstörungslüsten und Selbstfindungen der Szene. Eine fiktive Kriegsberichterstattung und eine alternative Ursprungsgeschichte des Kebabs erzählen von lustvollem Dilettantismus und lärmenden Haltungen bis in die hochgeklebten quietschbunten Haarspitzen. Über die Qualitäten des Soundtracks brauchen wir eigentlich kein Wort zu verlieren.

Text Lili Hartwig

Lili Hartwig ist Medien- und Kulturwissenschaftlerin und war langjähriges Mitglied der Sichtungskommission des Internationalen Wettbewerbs des IKFF. Sie arbeitet als Projektmanagerin, freie Kuratorin und Moderatorin und lebt in Hamburg.

Programmauswahl Film selection John Smith (Pr. 1&2), Lili Hartwig (Pr. 3&4), Sven Schwarz (Pr. 5)

Punks vs. Knights 

Der fiktive Aufstieg und Fall einer britischen Subkultur in vier Akten.

1976: Die Reporter der ›London Weekend Show‹ besuchen ein Konzert der Sex Pistols am Leicester Square und versuchen, von den Besuchern den Grund für die Popularität dieser ›neuen‹ Jugendkultur verraten zu bekommen.

1977: Eine Gruppe Punks mit einem Schaf erfindet den Kebab – leider zum Nachteil des Schafs – und lässt sich das Rezept klauen. Damit beginnt der unaufhaltbare Abstieg der Punks. Shane MacGowan von The Pogues ist der mit dem Schaf.

1979: Julien Temple dreht – dürftig getarnt als Promo für die neue ›UK Subs‹-Single – eine Fake-Dokumentation über England in einer Punk-Identitätskrise und lässt diese um der Seriosität willen von einem altehrwürdigen BBC-Reporter mit einem Voice-over-Kommentar versehen.

1980: Great Yarmouth, UK. Eine Gruppe junger Frauen wird von vier Punks belästigt. Zur Rettung erscheinen die Knights Electric, die das Herannahen von New Wave, der größten Konkurrenz des Punks, symbolisieren. Ein absurder Spielfilm in knalligem Cinemascope und mit einem wahnsinnigen Soundtrack. The Punks will lose. 

Filmauswahl Sven Schwarz

 

Über John Smith

 

Über John Smith

John Smith wurde 1952 in Walthamstow/London geboren. Er studierte Film am Royal College of Art und war in dieser Zeit in der London Filmmakers Co-op aktiv. Beeinflusst durch konzeptionelle Kunst und den strukturalistischen Film, setzen sich Smiths Arbeiten mit der immersiven Macht des Narrativen und des gesprochenen Worts auseinander. Seit 1972 hat er mehr als 50 Filme, Videos und Installationen produziert, welche die Grenzen zwischen Dokumentarfilm und Fiktion, Repräsentation und Abstraktion hinterfragen. Seine mehrfach ausgezeichneten Arbeiten wurden in Kinos, Galerien und im Fernsehen gezeigt.

Filmografie (Auswahl)

Who Are We? (2016), Dad’s Stick (2012), The Man Phoning Mum (2011), unusual Red cardigan (2011), Flag Mountain (2010), Hotel Diaries (series, 2001-2007), Blight (1996), The Black Tower (1987), Om (1986), The Girl Chewing Gum (1976), (Leading Light 1975)

Einzelausstellungen (Auswahl:

Alma Zevi, Venice (2017)
Tanya Leighton Gallery, Berlin (2017, 2015, 2013, 2012, 2010)
Kate MacGarry, London (2016)

Wolverhampton Art Gallery (2016)
Museum of Contemporary Art, Leipzig (2015)

Centre d’Art Contemporain de Noisy-le-Sec, Paris (2014)
The Gallery, Tyneside Cinema, Newcastle upon Tyne (2014)

Kestnergesellschaft, Hanover (2012)
Turner Contemporary, Margate (2012)

Weserburg Museum for Modern Art, Bremen (2012)
Uppsala Art Museum (2011)

Royal College of Art Galleries, London (2010)

Gruppenausstellungen (Auswahl):

FOMU Museum, Antwerp; Städtische Galerie im Lenbachhaus, Munich; Foundling Museum, London; MAC Belfast; Museu d’Art Contemporani de Barcelona; Berardo Museum, Lisbon; Tate Liverpool; Haus der Kunst, Munich; Tate Britain; Berlin Biennial; Walker Art Center, Minneapolis; MoMA New York; Venice Biennale; Whitechapel Gallery, London

Auszeichnungen (Auswahl):

Jarman Award, Film London; Paul Hamlyn Foundation Award for Artists; Hamburg International ShortFilmFestival; Ann Arbor  Film Festival; Bangkok Experimental Film Festival; Biennial of Moving Images, Geneva; Chicago International Film Festival; Cork International Film Festival; DOKLeipzig; International Biennale of Film and Architecture, Graz; International Festival of New Film, Split; International Short Film Festival Oberhausen; Lucca Film Festival; One World International Human Rights Film Festival, Prague; Stuttgarter Filmwinter; Uppsala International Short Film Festival