MOTIV: AUSNAHMEZUSTAND

Ausnahmezustand

»Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.« Carl Schmitt, ›Politische Theologie‹, 1922

»Wenn das Eigentümliche des Ausnahmezustands die (totale oder partielle) Suspendierung der Rechtsordnung ist, wie kann dann eine solche Suspendierung noch in der Rechtsordnung enthalten sein?« Giorgio Agamben, ›Ausnahmezustand‹, 2003

   »»Die Ausnahme bestätigt die Regel. Doch was ist, wenn die Ausnahme zur Regel wird?«

      Cicero: »Die Ausnahme bestätigt die Regel in den nicht ausgenommenen Fällen.«

»In Wirklichkeit bewohnt man nicht ein Stadtviertel, sondern die Macht. Man wohnt irgendwo in der Hierarchie.« Attila Kotányi und Raoul Vaneigem, ›Elementarprogramm des Büros für einen Unitären Urbanismus‹, 1961

Am 7. und 8. Juli findet in Hamburg der nächste G20-Gipfel statt. Erwartet werden unter anderem die Gäste Wladimir Putin, Donald Trump und Recep Tayyip Erdo?an. Erwartbar sind aber auch: Ausnahmezustand, Sicherheitszonen, Choreografien von Macht und Ohnmacht. Wiederkehrende Bilder von Wasserwerfern und Stormtrooper-artigen Polizeieinheiten, Personenkontrollen, Liveticker auf allen Kanälen, Tränengas, verbarrikadierte Banken, ritualisierte Handlungen hier und dort. Mit Ausnahmezustand können aber auch einfach nur ein Kindergeburtstag, die Harley Days oder der Karneval in Köln gemeint sein.

Betrachtet man den Ausnahmezustand als eine Unterbrechung der Normalität (nicht nur der politischen Ordnung), stellt sich also erst einmal die Frage, wer oder was den Normalzustand definiert – und ob durch die Akkumulationsnotwendigkeit unseres kapitalistischen Systems der Ausnahmezustand nicht längst zur systemerhaltenden Regel geworden ist. Eine Frage der Perspektive, die dieses Programm anhand von Animation, Experimentalfilm und dokumentarischer Form zu beleuchten versucht. Und ist nicht das Kino, das Filmerlebnis selbst, als eine Unterbrechung der Normalität unseres Alltags zu lesen? Nicht nur bei Katastrophenfilmen, Explosionen, sich überschlagenden Autos oder sprechenden Tieren suspendieren wir (freiwillig) unsere Umwelt, um in eine andere eintauchen zu können. Den Ausnahmezustand begrifflich, also nicht allein auf seine staatspolitische Dimension hin, auszuleuchten, ist der Ansatz dieses Programms. In seiner Dramaturgie bezieht es sich aber doch auf den rechten Staatstheoretiker Carl Schmitt, der die Ausnahme als Einnahme des Außen verstanden hat. So vollziehen die sieben Filme zum Ausnahmezustand eine Bewegung von innen nach außen, vom menschlichen Bewusstsein über unsere Körper hinaus ins Universum. Am Anfang steht der rechte Winkel, der bildhafte Versuch, Ordnung zu schaffen. Doch schnell verlieren wir den Boden unter den Füßen. Die Kader geraten in Schwingung, die Ordnung wird in die Luft gesprengt. »Die visuelle Intensität attackiert verinnerlichte Strukturen, man beginnt Wahrnehmungsmuster zu hinterfragen. Das Kino fördert dabei seinen spezifischen Illusionsraum zutage. Vom Gittergewitter auf der Leinwand wird man in eine Art Käfig gelockt. Die Dynamik steigert sich. Je mehr man versucht, sich daraus zu befreien, desto mehr verstrickt man sich darin.« (Siegfried A. Fruhauf)

Kinoerfahrung als Ausnahmezustand: Der Raum erweitert sich. Die Macht geht durch unsere Körper, an deren reiner Information und permanenter Verfügbarkeit sie nur mehr interessiert zu sein scheint, heißt es bei Peter Otts ›Die Einnahme des Außen‹. In ›Gesang der Jünglinge‹ werden Macht und Ohnmachtsverhältnisse durch einen subversiven Akt auf den Kopf gestellt, während in ›Black and White Trypps Number Three‹ der Ausnahmezustand ein gewünschter ist, ehe die zusammengekommene Masse nach ihrer Entladung kinematografisch in einen Trancezustand versetzt wird. Von den Körpern schwenken wir auf die Stadt. Nirgends zeigt sich anschaulicher, wie sich das Kapital sein eigenes Bühnenbild schafft, in dem wir die Rolle der Statisten einnehmen. Wie in Kevin B. Lees Desktop-Dokumentarfilmessay ›Transformers: The Premake‹, welches uns die Global-Big-Budget-Blockbuster-Serial-Filmindustrie-Mentalität und ihre antidemokratische Handhabung öffentlichen Raums für Dreharbeiten vor Augen führt, die man als permanenten Ausnahmezustand begreifen könnte.

Zuletzt verlassen wir die Erde und begeben uns mit Travis Wilkersons Animationspamphlet ›Pluto Declaration‹ ins Universum. Wilkerson, inspiriert von Santiago Alvarez, stellt auf charmante, aber auch dringliche Weise die essentielle Frage, wer und in welchem Geiste über Ordnung überhaupt bestimmt. Aber:

»When the going gets weird, the weird turn pro.«

      Hunter S. Thompson, ›Fear and Loathing at the Super Bowl‹, 1974

Text & Filmauswahl Bernd Schoch

Bernd Schoch ist freier Filmemacher. Er war von 2008 bis 2016 künstlerischer Mitarbeiter an der Hochschule für bildende Künste Hamburg und ist als Kurator unter anderem für die Dokumentarfilmwoche Hamburg und die Bewegtbildreihe ›Abgeguckt‹ (Volksbühne Berlin) tätig.

Gefördert von Norddeutsche Stiftung für Umwelt und Entwicklung.