AHNEN: A Picture A Day - Das Filmtagebuch der Anne Charlotte Robertson

Samstag, 7. Juni | 20 Uhr | Lichtmeß

Seit 1976 zeichnete Anne Charlotte Robertson (geb. 1949 in Boston) ihr Leben auf. Die Super-8-Kamera war ihre ständige Lebensbegleiterin und -therapeutin. Mit ihr wurden Ereignisse, Alltag, Nervenzusammenbrüche, Visionen, Illusionen und sogar ihr eigener Tod dokumentiert. In ihrer persönlichen Handschrift – einer Kombination aus Essay, Performance und Stop-Motion-Animation – entstand eine schonungslose Selbstanalyse, die auch unter dem starken Einfluss ihrer diagnostizierten geistigen Krankheiten und wechselnden Gemütszustände kaum unterbrochen wurde. In einer mutigen und heftigen Auseinandersetzung mit sich selbst entstand so ein bewegtes Spiegelbild auf Super 8.

Das als ›Five Year Diary‹ 1981 begonnene Projekt füllte sich auch nach den ersten fünf Jahren weiterhin mit Randnotizen und Live-Kommentaren. Erst lange nach seinem Beginn wurde es einem außenstehenden Publikum präsentiert. Eine faszinierend ehrliche Reise durch das Leben einer Frau des 20. Jahrhunderts. Die Begegnung mit ihrer Person, die in einem emotionalen inneren Dialog – zwischen Wahnsinn und Lebensfreude – um ihr Überleben kämpft, lässt den Betrachter erschrecken und zugleich staunend teilhaben.

Anne Charlotte Robertsons Filme sind geprägt vom Rauschen: Bilder, Gegenstände, Farben schwirren auf der Leinwand herum; Tage, Monate, Jahre ihres Lebens ziehen in Sekundenschnelle vorüber. Die sich überlappenden Tonaufnahmen lassen auch das Ohr nicht zur Ruhe kommen, man fokussiert auf dieses und jenes und hat doch nur Rauschen im Kopf, Bilder wie abstrakte Kunst vorm inneren Auge: Rot, Gelb, Blau, Blume, Katze, Fenster,

Stimmen, Vögel, Straßenlärm. Jedoch brechen klare, einfache Aussagen immer wieder aus dem Rauschen heraus. »Ich will doch nur glücklich sein.« »Ich möchte hübsch sein.« »Ich hätte gerne Kinder. « »Wo ist meine wahre Liebe?« Diese existenziellen Freuden waren der Filmemacherin leider nicht vergönnt. Anfangs schlank, mit filigranen Gesichtszügen und langen dunklen Haaren, lässt Anne Charlotte Robertson die Zuschauer an ihrem Leben und ihrem Verfall teilhaben. Von Medikamenten immer häufiger müde und immer stärker geschwollen, kämpft sie gegen die Gewichtszunahme, gegen die soziale Isolation und gegen sich selbst, gegen ihre psychische Krankheit, ihre Sucht.

Das diaristische Prinzip wird in der Psychotherapie angewendet, um beispielsweise bei Depressionen Stimmungsschwankungen zu dokumentieren. Anne Charlotte verordnet sich selbst die Aufzeichnung ihres Alltags, ihrer Routinen und versucht sich ins Hier und Jetzt zu retten. »Im Jetzt bleiben, nicht in die Fantasie abdriften.« Ihr Motto eröffnet auch den Zuschauern die melancholische Schönheit der vermeintlich unwichtigen Dinge. Wenn diese Schönheit nur nicht von hin und wieder aufblitzender Wut oder unvermeidbaren Exzessen durchzogen wäre. Tod, Trauer und Resignation gewinnen stetig an Raum. Der Sog des Rauschens ist stark. Am Ende kann jeder erleichtert sein, sich ins eigene Leben zurückgerettet zu haben, aber selten wird man das Leid einer Anderen so intensiv mitfühlen können.

Unsere erste Begegnung mit dem Werk von Anne Charlotte Robertson fand 1994 beim 10. Internationalen KurzFilmFestival in Hamburg statt. Im NoBudget-Programm führten wir auch in den folgenden Jahren wiederholt Teile ihres filmischen Tagebuchs auf. Dafür erhielt die Filmkünstlerin einige Preise und Auszeichnungen. Zu Beginn war sie bei vielen Zuschauern nicht unumstritten. Für uns war sie eine Offenbarung und wurde schnell zur ›Queen of NoBudget‹. Eine persönliche Einladung zu einer Sondervorführung beim Festival 2002 scheiterte. Sie musste, wie schon so oft, ihren mentalen Zusammenbruch im Krankenhaus behandeln lassen. 2012 verstarb Anne Charlotte Robertson an den Folgen von Krebs. Sie überließ ihr leidenschaftliches Lebenswerk dem Harvard Film Archive in Cambridge, MA. Wir werden einige ausgewählte Arbeiten zur Erinnerung und Anteilnahme zeigen.

Kuratoren: Vida Kaluza, Giuseppe Gagliano, Jan Peters

 

1. SPIRIT OF ’76 USA 1976 | 10:00 min | Colour | No dialogue

»Self-portrait allegories to doll, porch, garden, smoke, fire, compost pile. cat, etc.«

2. Five Year Diary, Reel 1, Nov 3 - Dec 13, 1981: The Beginning – Thanksgiving

USA 1981 | 25:00 min | Colour | English

3. Five Year Diary, Reel 71, Feb 3 - May 6, 1990: On Probation USA 1990/1995 | 27:00 min | Colour | English

»3. Februar bis 6. Mai 1990: Videoversion einer Live-Performance meines filmischen Tagebuchs. Szenen aus der ›Doctor Who‹ Show, Familie, Filmschnitt, Schwimmen, Krankenhaus, Alkohol, Sozialarbeiter, Mondphasen, Vogelgezwitscher vs Städte.

»February 3 to May 6, 1990: Video version of a live performance of my film diary. Ecerpts from Doctor Who show, family, editing film, swimming, alcohol, trouble with the social worker, birdsongs vs cities.«

4. Five Year Diary, Reel 81: Mourning Emily USA 1997 | 25:03 min | Colour | English

»Dies ist Rolle 81 meiner persönlichen Super-8-Video-Dokumentation, dem ›Five Year Diary‹. Es zeigt die Periode vom 27. September 1994 bis zum 29. Januar

1995. Folgende Themen wurden festgehalten: trauern über meine dreijährige Nichte Emily; Qualen über den Verlust meiner Schönheit; kämpfen mit Alkohol,

Gewicht, und Armut; Familie; Schwärmerei für zwei Schauspieler.«

»This is Reel 81 of my Super 8/video personal documentary Five Year Diary. The time period covered is September 27, 1994 to January 29, 1995. Topics covered are: mourning for my 3 year old niece Emily; worrying about losing my beauty; struggles with alcoholism, weight, and poverty; family; love crushes on two actors.«

5. MY CAT , MY GARDEN, AND 9/11(2001) USA 2001 | 6.00 min | Colour | English

»Meine geliebte Katze Zouina starb eine Woche vor der Tragödie; eine Woche danach starb mein Garten.«

»My adored cat Zouina died a week before the tragedy; a week after, my garden died.«

 

Für weitere Informationen zur Sammlung wenden Sie sich an die Konservatorin des Harvard Film Archive, Liz Coffey: coffey@fas.harvard.edu