LABOR: Muschi Krawall - The Sound Of Agitation

Als The Slits 1979 in einem frühen Video geräuschvoll und mit Hingabe einen englischen Kleinwagen zerlegten, hatten sie ganz beiläufig eine Art von ›Redesign‹ und damit ein neues Sujet der Videokunst erfunden. Die rabiaten Korrekturen am Autodesign wurden in den 80er Jahren durch Videos von The Art of Noise oder Pipilotti Rist zu Klassikern. Der Klang von splitterndem Glas und dem Donnern malträtierter Bleche waberte als bedrohliches Echo der Industrialisierung durch die proletarischen Stadtviertel, lange bevor die Bulldozer der Gentrification im Anmarsch waren.

Jede Idee einer Gegenkultur, Antikunst oder sozialen Utopie hatte im 20. Jahrhundert ihren speziellen, oft visionären Klang. Im diesjährigen Labor-Programm lauschen wir den Agitationen und Soundtracks einiger dieser schon wieder fernen Subkulturen, die auch Inspirationsquellen für die ersten Jahre des Hamburger No Budget Festivals waren.

Die leicht verkratzte Stimme von Jack Kerouac führt in ›Pull My Daisy‹ durch einen Tag unter Aussteigern, Rumtreibern und Poeten im New York der späten 50er-Jahre. Der Fotograf Robert Frank hat diese scheinbar alltägliche Zusammenkunft in einer kleinen Wohnung mit leichter Hand und detailliertem Script gefilmt. Man merkt der improvisiert wirkenden Szenerie an, wie Literatur, Leben und Jazz ganz im Hier und Jetzt verschmelzen. Allen Ginsberg sitzt natürlich mit am Tisch. Sein epochales Gedicht ›Howl‹, angelegt in der Form eines langen, ausufernden Gedankenstroms, war rhythmisiert von den Synkopen des Bebop und spiegelte in seinen Assoziationen den ruhelosen Skeptizismus einer Generation von Intellektuellen in den USA, die den Abwurf der ersten Atombomben erlebt hatten. In ›YELP – with apologies to Allen Ginsberg’s Howl‹ erleben wir eine absurde Aktualisierung von Ginsbergs Text unter den Bedingungen einer hoch technisierten Welt, in der Smartphones, Apps und Flachbildschirme mit Netzverbindung den Großteil unserer Wahrnehmung zu bestimmen scheinen, während sie uns gleichzeitig ausspionieren. »I saw the best minds of my generation destroyed by…«

Die 60er-Jahre brachten das Grundmodell des schöpferischen Querdenkertums mit verschwenderischer Fantasie und politischem Idealismus hervor. Musik, Filme, Underground Comics, Theaterexperimente, Literatur von der Straße, unzählige Kunststile – eine Ballung von authentischen kreativen Energien wurde sichtbar. Die Idee einer Kulturindustrie stand in voller Blüte und das Geschäft mit dem Modell ›Rockstar‹ warf üppige Profite ab. Mit dem Ausverkauf des Idealismus kamen die Verflachung und komplette Kommerzialisierung dieser Gegenkultur.

Fast zwangsläufig bildeten sich aus dieser kulturellen Situation neue Gegenbewegungen. Im New York der 70er-Jahre entstand die ›Blank Generation‹ und erfand Punk und Noise als Fluchtweg aus der Tristesse bürgerlicher Vorstellungen von Karriere und Glück. Ihre von Verzweiflung und Wut angetriebenen Klänge, Texte und Filme waren laut, nihilistisch, voll mit politischem Witz und kompromisslos in der Ablehnung der Autoritäten. Eine der Protagonistinnen dieser Subkultur war Lydia Lunch, die in Musik, Texten und radikalen, transgressiven Filmen ihre künstlerische Form fand. Ihre Entwicklung und ungebrochene Produktivität in den vergangenen 40 Jahren sind erstaunlich. In Zusammenarbeit mit der Videokünstlerin Elise Passavant entstanden in den letzten Jahren etliche inspirierte, atmosphärisch dichte Filme zu Lydia Lunchs Songs. Wir zeigen drei kurze Videos zu den großen Themen Sex, Zerstörung und Traum, alle geprägt vom Geist der Unabhängigkeit.

In England mutierte der importierte US-Punk Mitte der 70er-Jahre erstmal zu einem Londoner Modelabel von Malcom McLaren und Vivienne Westwood, entwickelte aber schnell eine unberechenbare Eigendynamik und entfaltete seine anarchischen Potenziale im Alltag der europäischen Metropolen. Hamburgs Stadtbild verdankt dem Punk die Hausbesetzungen an der Hafenstraße, die lange verhinderten, dass der freigeistig gewachsene Stadtteil St. Pauli zur reinen Dispositionsmasse für Immobilienspekulanten wurde und in architektonischer Ödnis versank. Mit Punk wurden Frauen endgültig wieder zu Aktivistinnen, die die Dekonstruktion überkommener Rollenmodelle und Normen vorantrieben. Da waren Videos wie ›Shoplifting‹ von den Slits mit der Aufforderung zum exzessiven Ladendiebstahl nur konsequent.

Ende der 70er-Jahre wandten sich Joe Strummer und The Clash dem Reggae ihrer jamaikanischen Nachbarn zu – und britische Punks folgten ihnen reihenweise. Statt Bier gab es jetzt Ganja und man träumte von einem karibischen Sozialismus der entspannten Art nach dem Vorbild der Sandinista-Bewegung. Wie so oft waren die Realitäten komplizierter…

Jamaika hatte Anfang der 80er Jahre äußerst gewalttätige Unruhen mit mehr als 600 Toten hinter sich. Der sozialistisch orientierte Regierungschef Michael Manley wurde für diese angeblichen (und vermutlich von CIA-Agenten geschürten) Stammesfehden verantwortlich gemacht und abgesetzt. Sein Nachfolger, der rechtsgerichtete Politiker Edward Seaga, orientierte sich an den USA und entwarf zur Belebung der Tourismusindustrie das Bild von Jamaika als einer paradiesischen Sonneninsel unter Palmen. Der ursprüngliche, anarchisch-aufklärerische Dub-Reggae wich zusehends einer harmlosen Version unter dem Label ›Export Reggae‹. Als Helmut Herbst mit seiner 16mm-Kamera und einem Nagra-Rekorder Anfang der 80er Jahre auf Jamaika unterwegs war, traf er neben Fischern im Hafen von Kingston auch den Dub-Poeten Oku Onuora. Der Dichter mit einer sehr bewegten Vergangenheit agitiert in seinen Texten immer wieder gegen das Klischeebild vom hedonistischen Kifferparadies Jamaika und verweist auf eklatante soziale Probleme auf der Insel. Agitation reimt sich bei ihm auf Education und seine Texte speisen sich aus Alltagsbeobachtungen vom Leben der einfachen Jamaikaner. Der Dub-Reggae zeigt sich als sehr komplexes Mitteilungssystem zur Diskussion der großen sozialen Fragen. Dass Oku Onuora seine Kritik meist in einer sehr angenehmen karibischen Rhythmik und mit dem Zungenschlag des jamaikanischen Englisch vorträgt, gibt dem Film ›Some Serious Agitation‹ seinen speziellen Klang und eine entspannte Intensität. Helmut Herbst hat den Film 2013, nach 33 Jahren, geschnitten und wir zeigen ihn in einer Uraufführung.

Sicherlich darf in diesem Programm die wahre PR aus Russland nicht fehlen. Nach Hunderten von Nachrichtensendungen zeigen wir den Agitprop-Clip ›Mother of God, put Putin away‹ des Künstlerkollektivs Pussy Riot in voller Länge – Muschi Krawall sozusagen.

Text und Filmauswahl: Hanna Nordholt und Fritz Steingrobe