GALERIE: L vor K - Zeitwidrige Korrespondenz. Internationale Videokunst

Donnerstag 5. Juni | 20.00 Uhr | Zeise 2

In Keats, this got the pencil: »She showed the visitor a box full of paper, saying it was her manuscript, but the box contained unanswered letters and unpaid bills. That, she explained, was the story of her life.«

-- Frances Stark, ›Professional me‹, November 1999–January 2000 (Collected Writing: 1993-2003, Book Works, 2004, pp. 52-53)

 

Mit dem Ende zu beginnen, war ein Kunstgriff, den Alan Bass für die Einleitung seiner Übersetzung von Derridas ikonischem Text "The Post Card, From Socrates to Freud and Beyond" (1980) anwandte. Er liess sich dabei von der Textvorlage Derridas inspirieren, platzierte die Danksagung vor den Leitsatz und durchkreuzte damit die im Verlagswesen sonst übliche Reihenfolge. Mit diesem Dreh zeigt Bass, dass jeder Folge die Möglichkeit ihrer Umkehrung innewohnt – eine anachronistische Reihenfolge, in der das Jetzt die Vergangenheit beeinflussen und das Neue das Alte beerben kann.


In seiner Form als Brief- oder Postkarte erinnert uns Derridas Text daran, dass ein Brief als Anachronismus im Zeitalter der Telekommunikation bloss eine Technologie von vielen ist. Dieser Auffassung folgend stellt dieses Programm anhand einer Auswahl von Künstlern und Filmen die Frage, was passieren würde, wenn L vor K käme und erforscht somit das Potenzial der Unordnung in einem sortierenden, steuernden und verwaltenden System. Das Programm versucht die Sensibilität der Briefform in Kunstwerken zu entdecken, die weit über den physischen Akt des Briefeschreibens hinausgeht. Werke, die in Korrespondenz mit sich selbst stehen, mit dem Publikum oder anderen Adressaten – losgelöst von gewohnten Abfolgen.


Jacques Derrida erklärte den Brief zu "nicht einem Genre, sondern allen Genres, zur Literatur selbst" (The Post-Card. From Socrates to Freud and Beyond 1980. Trans. Alan Bass. Chicago: University of Chicago Press, 1987) und prophezeite dennoch seinen Untergang unter dem technologischen Regime der Telekommunikation. Und doch stellen wir 30 Jahre später fest, dass der Brief nicht nur in seiner ursprünglichen Form überlebt hat, sondern auch in neuen Manifestationen als E-Mail, Skype-Unterhaltung, SMS oder Twitter-Feed weiterlebt. Diese Hybridformen, so beschleunigt und entmaterialisiert, dass sie oft eher dargestellt als wirklich geschrieben werden, lassen dennoch ihre grundlegende Natur hinter dem Pixelvorhang durchscheinen.

Das Filmprogramm erforscht die Auswirkungen dieser Entwicklungen auf die Produktion von Kunst und macht sich daran, die Briefform als ein Stilmittel unter vielen im modernen künstlerischen Schaffen nachzuweisen. Es vereint Werke, in denen Künstler sich mit Abfolgen auseinandersetzen, indem sie vorgefasste Vorstellungen über das Davor und das Danach zugunsten der Möglichkeiten der Mischung, Umorganisation und Gleichzeitigkeit aufgeben. Die Hauptthemen des Programms leiten sich aus dem Briefroman des 18. Jahrhunderts ab, beschäftigen sich jedoch mehr mit den Auswirkungen auf die heutige Zeit, als mit dem historischen Ursprung. Die Strategien des Briefromans: Fragmentierung, anachronistische Neuanordnung, Authentizität, die Möglichkeit des privaten unzensierten, vielleicht sogar bekenntnishaften Gesprächs, der nicht verschickte Brief, das Tagebuch als Fundstück und fassbares Material, aber auch die Option, mit fremden Zungen zu sprechen und Individuen ausser Reichweite zu adressieren, sind deutlich erkennbar. Darüber hinaus wird Korrespondenz als Form der Kollaboration und Zusammenarbeit über geografische und zeitliche Grenzen hinweg untersucht.


Ob es sich um Fanpost, Liebesbriefe oder Tagebucheinträge handelt – die Werke von Jenna Bliss, Cecelia Condit, Keren Cytter, Manon de Boer, Cécile B Evans, Loretta Fahrenholz, Sophie Michael, Richard Sides/Stuart Middleton und Frances Stark zeigen, dass, auch wenn uns allen die Übung im Briefeschreiben ein wenig abhanden gekommen ist, die Sensibilität der Briefform auch in der modernen Kommunikation weiterlebt und dass das Schreiben von Briefen als Brauch, stilistische Übung und kreativer Prozess jenseits der Tinte auf Papier fortbesteht.

Text & Filmauswahl: Anna Gritz, South London Gallery
Anna Gritz ist Schriftstellerin und Kuratorin in London. Sie ist Kuratorin für Film, Performance und Talks der South London Gallery.